Schlamperei und Behördenversagen. Vor einem Jahr berichteten wir über die gefährlichste Kreuzung von Mitte. Hat sich an der Ebertsbrücke seitdem etwas getan? Ein Ortsbesuch.
An einem nasskalten Januartag um zwölf Uhr hat sich die Berliner Zeitung mit Almut Neumann verabredet, der Verkehrsstadträtin von Berlin-Mitte. Treffpunkt: das südliche Ende der Ebertsbrücke. Der Grund: An der Straßenkreuzung zwischen Am Weidendamm, Kupfergraben und Geschwister-Scholl-Straße werden Verkehrsteilnehmer durch 152 Meter massives einbetoniertes Stahlgeländer an einem sicheren Überqueren der Straße gehindert. Stattdessen wird hier seit 30 Jahren (das Geländer ist ein Relikt aus DDR-Zeiten) gesprungen und gekrochen. Wohl keine Kreuzung in Berlin ist so irre, dumm und gefährlich.
Das sorgt für Ärger, ist lebensgefährlich und bestätigt das Schmuddel-Image von Berlin als „failed city“. Und das nicht irgendwo in Alt-Mariendorf, sondern im Herzen der Hauptstadt, zwischen Museumsinsel und Friedrichstraße, an einem der am stärksten von Touristen frequentierten Orte Berlins.
Im Mai 2022 verlieh die Berliner Zeitung dieser eigentlich unscheinbaren Ecke den Titel „Dümmste Kreuzung von Berlin“. Damals zeigten wir auf, dass dieser Ort nicht nur irre und gefährlich, sondern auch fehlgeplant ist. Wir dokumentierten Unfälle, wühlten uns durch die Kreuzungsgeschichte, sprachen mit ignoranten Polizisten, registrierten Behördenversagen und Schlamperei.
Zwar empfand die 2021 neu gewählte Verkehrsstadträtin Almut Neumann (Grüne) laut eigener Aussage die Absperrung damals auch als „skurril“. Sie habe sich als Passantin in der Vergangenheit „ehrlich gesagt auch schon darüber geärgert“. Sie wollte deshalb eine „halbwegs zeitnah umzusetzende Lösung“ für die Kreuzung finden.
Das Problem ist: Seitdem hat sich nichts getan. Auch jetzt, während wir auf die Amtsträgerin warten, irren Dutzende Menschen umher, es wird wild gehupt und es kommt fast zu Unfällen.
Wobei, ein bisschen was ist doch passiert: In der Weihnachtszeit gab es für ein paar Tage Hoffnung bei den betroffenen Bürgern. An der nördlichen Fußgängerquerung fehlte auf der Länge von etwa vier Metern plötzlich ein Teil des Geländers. Die „Bresche im Geländer“ sei nur durch eine mit Kabelbinder befestigte Absperrbarriere aus Kunststoff (siehe Foto) gesichert, schrieben uns Leser. „Haben die Bauarbeiten endlich begonnen?“
Eine Anfrage bei der Polizei klärt auf: Am 13. Dezember 2022 habe ein 53-jähriger Kraftfahrer seinen Lkw in das „genannte Gehwegschutzgeländer“ gesteuert und dieses stark beschädigt. Gott sei Dank sei niemand verletzt worden, sagt die Beamtin am Telefon. Lag es am gefährlichen Zustand der Kreuzung, ist unsere Gegenfrage. Ihre Antwort: „Können wir uns darauf einigen, dass es ein Fahrfehler gewesen ist - bitte?“
Die Hoffnung der Bürger auf eine Beseitigung des Geländers lebt in der Folge nur 24 Tage. Denn schon am 7. Januar stellt das Bezirksamt Mitte den alten, irren Zustand durch den Einbau eines neuen Geländers wieder her. Schlimmer noch: Das neue Gitter ist jetzt so beschaffen, dass ein Hindurchtauchen zwischen den Stangen nicht mehr möglich ist. Eine zusätzliche Verschärfung.
In den vergangenen Monaten haben wir mehrmals versucht, vom Bezirk und von der Verkehrsstadträtin zu erfahren, wie es mit der Kreuzung weitergehen soll. Vergeblich. Erst jetzt erklärte sich Almut Neumann – und das finden wir mutig – zu einer gemeinsamen Ortsbegehung bereit. Unser Ziel: Wir wollen der Stadträtin endlich eine konkrete Planung abringen. Das sind wir Ihnen, unseren Lesern, schließlich schuldig.
Roland Stimpel, weiße Locken, runde Brille, ist wie immer ein paar Minuten früher da. „Deutschlands wichtigster Anwalt der Fußgänger“, wie er in der Tagesschau bezeichnet wird, ist Sprecher des Fachverbands Fußverkehr Deutschland (Fuss e.V.), wohnt zufällig eine Straße weiter und kämpft seit Jahren dafür, dass die gefährlichen Geländer verschwinden: „Die Ecke ist völlig absurd.“ An dieser Kreuzung sei keine Sekunde nachgedacht worden, sagt Stimpel. „Warum ist man in 30 Jahren nicht mal auf die Idee gekommen, die Geländer abzubauen und einfach die Bordsteine abzusenken?“
Da kommt die Verkehrsstadträtin. In einem eleganten schwarzen Mantel, einer grauen Kaschmirmütze, Seidentuch und modischen Chelseaboots überquert die ehemalige Richterin am Verwaltungsgericht Berlin die Kopfsteinpflasterstraße und klettert behände und mit einem verschmitzten Lächeln über das Geländer zu uns auf den Gehweg. Eigentlich ein Verstoß gegen die StVo, aber die galt auf der Kreuzung gewohnheitsmäßig ja sowieso nie. Wir fassen Vertrauen.
Die Politikerin hat Verstärkung mitgebracht. Ihr Kollege Felix Ross, der als Gruppenleiter kommunales Planungs- und Verkehrsmanagement im Bezirk die Planung der Kreuzung verantwortet, ist auch dabei. Mit seiner Carhartt-Mütze und dem modischen Schnauzbart sieht der Beamte lässig aus. Ein erster Eindruck, der sich im folgenden Gespräch nicht bestätigen wird.
Los geht's. Wir plaudern ein wenig über den Zustand der Brücke und beobachten das skurrile Treiben. Schnell fällt uns auf, dass Frau Neumann durchaus willens ist, den Zustand für die Bürger zu verbessern. Sie argumentiert kompetent und stimmt unseren Ansichten in den meisten Details zu.
Die Grünen-Politikerin ist seit ihrem Amtsantritt Ende 2021 für eine pragmatische Verkehrspolitik bekannt. Für jeweils 12.000 Euro hat sie allein im Jahr 2022 rund 50 Kreuzungen in Berlin-Mitte nicht nur sicherer für alle Verkehrsteilnehmer gemacht, sondern dadurch auch 400 Autoparkplätze abgeschafft. Damit kommt sie dem Grünen-Ziel einer autofreien Stadt mit jeder weiteren Kreuzung einen Schritt näher.
Und das geht so: An allen vier Enden einer Kreuzung werden jeweils zwei Autoparkplätze mit Schildern und Markierungen als Zweiradparkplätze markiert. Dadurch stehen weniger E-Scooter, Fahrräder und Motorräder auf dem Gehweg – und schon ist die Kreuzung für alle Verkehrsteilnehmer besser einzusehen und ein Sicherheitsgewinn vor allem für Rollstuhlfahrer und Fußgänger. Bis Ende 2023 möchte Neumann 100 Kreuzungen optimiert haben. So geht moderne Stadtentwicklung.
Eine Praxis, die auch der Fußgängeranwalt Stimpel ausdrücklich lobt. An der Ebertsbrücke hat es Frau Neumann allerdings nicht leicht. Denn der hier zuständige Tiefbauexperte Felix Ross bügelt jeden kreativen Vorschlag der Berliner Zeitung brüsk ab.
Auf der Brücke verkehre nun mal Vorrangverkehr, der Ersatzverkehr der S1, und generell könne man die Geländer wegen des Autoverkehrs nicht abbauen oder den Bordstein „einfach“ absenken, denn das sei zu gefährlich, sagt der Beamte. Auf unseren Einwand, dass ja gerade der plötzliche Übersprung über das Geländer hier für noch mehr Gefahr für Leib und Leben sorge als ein zu hoher Bordstein, kontert der Beamte mit dem Argument, dass ein Übersteigen des Geländers hier eben gar nicht vorgesehen sei.
Wir argumentieren, dass die Leute das aber alle täten und am nördlichen Ende der Brücke ja noch höhere Bordsteine seien, woraufhin Ross entgegnet, dass am nördlichen Spreeufer auch keine Querung vorgesehen sei. Dass dort in der Praxis täglich Tausende Touristen zwischen Bode-Museum und Friedrichstraße über die Straße laufen, habe rechtlich nichts zu sagen.
Eine traurige Sichtweise, die nur den Soll- und nicht den Ist-Zustand auf der Kreuzung einzubeziehen scheint. Und die die Eigenhaftung der Behörde über die Sicherheit der Menschen auf der Straße stellt. Willkommen in der unbarmherzigen preußischen Bürokratie.
Stichwort: Sicherheit. Dass die Brücke im jetzigen Zustand inklusive Geländer eine akute Gefahr für Verkehrsteilnehmer darstellt, will Ross nicht gelten lassen. Das gäben die Statistiken einfach nicht her, sagt der Beamte. Das Problem an Ross' Sichtweise, nur weil keine schlimmen Unfälle statistisch erfasst sind, heißt das jedoch nicht, dass keine Gefahr besteht.
Im Zuge unserer Recherchen im Sommer haben wir mehrere Unfälle mit Personenschaden beobachtet und mit Autofahrern und Fahrradfahrern gesprochen. Unser Urteil, die Kreuzung funktioniert nur einigermaßen, weil alle Verkehrsteilnehmer die sie kennen, wegen ihrer Dysfunktionalität und schlechten Einsehbarkeit besondere Vorsicht walten lassen und beispielsweise nur in Schrittgeschwindigkeit in sie einfahren.
Roland Stimpel überzeugen die Argumente des Grünflächenamtes jedenfalls nicht: „Ich hoffe, dass da was gemacht wird, bevor da der erste Fußgänger zwischen Auto und Geländer zerquetscht wird.“ Wie geht es nun weiter, wird der Zustand also weitere 30 Jahre bestehen bleiben?
Die einzige Möglichkeit, die Geländer zu entfernen, da stimmen Ross und die Verkehrsstadträtin Neumann überein, sei es, die Ebertsbrücke ganz für den Autoverkehr zu sperren und in eine Fahrradstraße zu verwandeln. Erst dann könne man einen Bordstein absenken. Dazu müsse man das mit dem übergeordneten Straßen- und Wegenetzplan in Einklang bringen und sich mit anderen Behörden abstimmen. Und das dauere eben.
Wir fragen uns, wie es im dichten Innenstadtverkehr möglich ist, eine Brücke für den Autoverkehr zu sperren. Zumal die Karl-Liebknecht-Brücke im Osten gerade verengt und die Weidendammer Brücke im Westen inzwischen immer baufälliger wird. Man sei da dran, sagt Almut Neumann. Die Geländer aber würden noch mindestens bis Ende Dezember 2023 fest im Boden einbetoniert bleiben.
Jetzt ist also der Autoverkehr die Bedingung für das Geländer? Und nicht nur das, denn auch blinden und sehbehinderten Menschen könne man diese „Querungsstelle“ ohne Geländer nicht anbieten.
Wir bitten den Fußgängeranwalt um seine Einschätzung: Das sei natürlich Quatsch, sagt Roland Stimpel, denn Blinde würden meist nur Alltagswege gehen und selten alleine in unbekanntes Terrain vordringen. Die Kreuzung sei mit oder ohne Geländer für Sehbehinderte genauso gefährlich. Man könne das durch Markierungen kennzeichnen.
Insgesamt sei es in Berlin typisch, Vorschriften zu 150 Prozent einzuhalten, statt sich pragmatisch, wie etwa im Rheinland, durch das Vorschriftendickicht zu lavieren. „Wir müssen davon wegkommen, dass jedes Detail stimmen muss. Wenn man so agiert, kommen, wie so oft in Berlin, null Prozent als Gesamtergebnis heraus“, sagt Stimpel.
Auch zur geplanten Fahrradbrücke hat der Fußgängerlobbyist eine klare Haltung: „Das ist alles schöne Utopie“, sagt Stimpel, „das darf aber nicht wie üblich in Berlin ein Vorwand sein, um das auszuschließen, was sofort nötig und möglich ist.“ Man dürfe der Verkehrsstadträtin aber in der Sache nicht allein die Schuld geben. „Ich nehme bei ihr guten Willen wahr, aber sie ist wie viele Politiker im Dschungel der Bürokratie gefangen.“
Eine paar Stunden vor Redaktionsschluss erreicht uns dann noch ein Statement von Almut Neumann per Mail. Stimpels „Vorschlag der teilweisen Entfernung der Gitter, flankiert zusätzlich durch taktile Warnsteine für Menschen mit Seheinschränkungen, finde ich eine interessante und diskussionswürdige kurzfristige Lösungsoption. Ich habe das Straßen- und Grünflächenamt daher im Nachgang an das Vor-Ort-Gespräch gebeten, in einem Sicherheitsaudit prüfen zu lassen, ob das nicht doch eine Lösung sein könnte, die die Sicherheitsaspekte aller besser berücksichtigt als die derzeitige Situation“. Unsere Leser jedenfalls drücken fest die Daumen. Und wir bleiben natürlich dran.
Nach fast zwei Stunden auf der Brücke verabschieden wir uns. Frau Neumann taucht dieses Mal unter dem Geländer durch, auch Felix Ross entscheidet sich für den Regelbruch und springt über die Stahlrohre. Jedem Anfang wohnt ein Zauber inne. Manchmal ein etwas ungelenker.
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