EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen hat sich für umfangreiche industriepolitische Eingriffe ausgesprochen, um Europa im globale Rennen um klimafreundliche Technologien zu stärken. „Mit der richtigen Unterstützung und den richtigen Anreizen für Unternehmen“ werde „die Geschichte der Wirtschaft der sauberen Technologien in Europa geschrieben“, zeigte sie sich auf dem Weltwirtschaftsforum in Davos zuversichtlich.
Konkret sprach sie sich für einen „Green-Deal-Industrieplan“ aus, der die Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Wirtschaft verbessern soll. Die Initiative ist eine Reaktion auf die gewaltigen Subventionsprogramme, mit denen China und die USA grüne Wirtschaftszweige fördern.
Lob kommt aus dem Bundeswirtschaftsministerium. „Ich begrüße den Green-Deal-Industrieplan von Kommissionspräsidentin von der Leyen ausdrücklich. Das war ein sehr wichtiges Signal heute in Davos“, sagte Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck dem Handelsblatt.
Der Industrieplan soll vier Säulen umfassen. Die Kommission will erstens den Bau neuer Windparks oder Batteriefabriken beschleunigen. „Wir müssen ein Regelungsumfeld schaffen, das es uns ermöglicht, rasch zu expandieren und günstige Bedingungen für jene Branchen zu schaffen, die für die Klimaneutralität entscheidend sind“, sagte von der Leyen. Die Kommission werde dafür ein neues „Netto-Null-Industrie-Gesetz“ vorschlagen – nach dem Vorbild des EU-Chip-Acts, der die Halbleiterproduktion in Europa ankurbeln soll.
Das „Netto-Null-Industrie-Gesetz“ solle zudem Hand in Hand mit dem „Raw Materials Act“ gehen, der Europas Zugriff auf kritische Rohstoffe verbessern soll. „Bei seltenen Erden, die für die Herstellung von Schlüsseltechnologien wie Windkrafterzeugung, Wasserstoffspeicherung oder Batterien von entscheidender Bedeutung sind, ist Europa heute zu 98 Prozent von einem Land – China – abhängig“, mahnte von der Leyen.
Dies habe die Preise in die Höhe getrieben und bedrohe Europas Wettbewerbsfähigkeit. „Wir müssen also die Veredelung, Verarbeitung und das Recycling von Rohstoffen in Europa verbessern.“
Die zweite Säule des Industrieplans soll die Förderung der Produktion umweltfreundlicher Technologien erleichtern. „Damit die europäische Industrie attraktiv bleibt, ist es notwendig, mit den Angeboten und Anreizen außerhalb der EU mitzuhalten“, sagte von der Leyen in Anspielung auf den „Inflation Reduction Act“, das Förderprogramm der USA. Von der Leyen will daher „vorrübergehende“ Anpassung des Wettbewerbsrechts, „um Beihilfen schneller und leichter möglich zu machen“.
Als Beispiel nannte die Kommissionschefin „unkomplizierte Modelle zur Steuerentlastung“ und gezielte Subventionen „für Produktionsanlagen in strategischen Wertschöpfungsketten für saubere Technologien“. Dabei sollen anders als bisher nicht nur bahnbrechende technologische Entwicklungen gefördert werden, sondern auch Technologien, die schon am Markt sind und für die Europa mehr Produktionsanlagen schaffen will.
Die dritten Säule des Green-Deal-Industrieplans ist die Qualifikation von Arbeitnehmern. „Die beste Technologie ist nur so gut wie die Fachkräfte, die sie einbauen und betreiben können“, sagte von der Leyen. „Wachstum bei den neuen Technologien ist nur möglich mit einem enormen Zuwachs an Qualifikationen und qualifizierten Arbeitskräften.“
Als vierte Säule sollen neue Handelsverträge dienen und die Grundlage für „starke und krisenbeständige Lieferketten“ bilden. „Wir brauchen eine ehrgeizige Handelsagenda“, stellte von der Leyen klar. Abkommen mit Mexiko, Chile, Neuseeland und Australien seien in Arbeit, Fortschritte mit Indien und Indonesien möglich.
Auch das Mercosur-Abkommen mit den wichtigsten Volkswirtschaften Lateinamerikas müsse wieder Thema werden, forderte von der Leyen. „Internationaler Handel ist der Schlüssel, um die Kosten für unsere Industrie zu senken, um Arbeitsplätze zu schaffen und neue Produkte zu entwickeln.“
Der Kommissionschefin ist bewusst, dass ihr Industrieplan den EU-Binnenmarkt vor große Herausforderungen stellt. Industriepolitik muss man sich leisten können - längst nicht alle Mitgliedsstaaten sind dazu in der Lage. Wenn Deutschland und Frankreich ihre Industrien großzügig fördern, während Italien und Griechenland sparen müssen, werden sich die wirtschaftlichen Gegensätze in der EU verstärken. Schlimmstenfalls könnte sich das zur Gefahr für die europäischen Einheit auswachsen.
Die EU-Kommission will daher einen Souveränitätsfonds vorschlagen. Binnenmarkt-Kommissar Thierry Breton hat schon Ideen dafür gesammelt. Ein Bündel mehrere Maßnahmen könne ein „Sicherheitsnetz“ aufspannen und sicherstellen, dass „niemand zurückgelassen wird“, sagte er bei einem Pressegespräch.
Beispielsweise könnte die Europäische Investitionsbank Kredite bereitstellen und bisher nicht abgerufene Mittel aus dem Corona-Wiederaufbaufonds eingesetzt werden. Auch für gemeinsame Schulden zeigt Breton Sympathien. Als mögliches Vorbild nannte er das „Sure“-Programm - Gemeinschaftsanleihen, die die EU in der Pandemie ausgegeben hatte, um finanziell angeschlagenen Mitgliedsstaaten günstige Kredite zur Verfügung zu stellen. Wichtig sei, dass Europa ein „sehr starkes politisches Zeichen“ im Wettbewerb mit China und den USA sende.
Bundeswirtschaftsminister Habeck stimmt zu: „Die vier Säulen - von Planungsbeschleunigung über Finanzierung, Technologie bis hin zur Handelspolitik – sind notwendig für ein starkes und klimaneutrales Europa und gerade jetzt wichtiger denn je, um neben akuter Krisenhilfe den Blick konsequent nach vorn zu richten.“ Die Vorschläge passten zu dem, was die Bundesregierung erarbeitet habe. „Europa wird den Wettbewerb nicht verlieren, aber es gibt ihn“, sagte Habeck. Dieser Realität müsse sich die EU stellen.
Wirtschaftsexperten teilen diese Auffassung. „Eine Antwort auf den IRA zu finden ist die Schicksalsfrage der europäischen Wirtschaft“, sagte Stefan Schaible, der Chef des Beratungsunternehmens Roland Berger, dem Handelsblatt. Die Förderung durch Subventionen und Steuervergünstigungen sei das eine. Ebenso wichtig sei eine kluge, auf Innovationen ausgerichtete Industriepolitik. „Hier könnte sich Europa erheblich verbessern.“
Mehr: Frankreich will Europas Industriepolitik revolutionieren
https://www.handelsblatt.com/politik/international/inflation-reduction-act-frankreich-will-europas-industriepolitik-revolutionieren/28924070.html
Das Kommentieren dieses Artikels wurde deaktiviert.